Rudolf Thome: »Nähe und Distanz – So sehe ich das Leben«


 

 

Über schmale Landstraßen in schlechtem Zustand nähern wir uns Niendorf, der beschaulichen 103- Einwohner-Gemeinde, in der Rudolf Thome seit drei Jahrzehnten wohnt. Im Straßenausbau ist der Solidaritätszuschlag offenbar nicht gelandet. Dafür stehen Windräder auf den Feldern. Der wilde Osten Deutschlands erinnert an die grauen Weiten Polens und die endlosen Highways in den USA. Es sieht aus wie in einer verlassenen Westernstadt. Kurz vor dem Ortsschild laufen Hennen und Hahn über die Fahrbahn. Als wir dann neben Thomes Haus, zwischen See und alten Bauernhöfen halten, wissen wir: Das ist der perfekte Ort für eine Künstleridylle.

 

Rudolf Thome begann in den 60er-Jahren in München mit dem Filmemachen. 1970 entstand der Kultfilm »Rote Sonne», in der eine vierköpfige Frauen-WG jeden Mann, der zu Besuch kommt, nach ein paar Tagen umbringt. In »Berlin Chamissoplatz« von 1980 wird eine Liebesgeschichte erzählt, in der die linke Szene bereits gegen die Gentrifizierung Kreuzbergs kämpft. Seit den 80er-Jahren gilt Thome als ruhiger, humorvoller Filmemacher, der romantische Beziehungsgeschichten inszeniert. Insgesamt hat er 28 Langfilme gedreht. Die Drehbücher schrieb er seit 1999 öffentlich auf seinem Blog im Internet. In einigen seiner Filme diente auch der Bauernhof als Kulisse, zuletzt entstand dort 2016 der Porträt-Film »Rudolf Thome – Überall Blumen« von Serpil Turhan, die zuvor mit Thome als Schauspielerin und Aufnahmeleiterin zusammenarbeitete. Auch Thomes Tochter Joya hat hier bereits gedreht: ihren Debütfilm »Königin von Niendorf«.

 

Zur Begrüßung schenkt Thome seinen bevorzugten spanischen Wein ein. Es wird ein angenehm offenes, lockeres Gespräch, das passt zu seinen Filmen. Ob wir rauchen? Ja, beim Trinken. So gehe es ihm auch. Die rote Gauloises-Packung liegt neben dem Aufnahmegerät auf dem Tisch. Lara Verschragen, die mich zum Interview begleitet, muss noch fahren. Also trinkt sie einen Espresso. Thome zündet sich eine Zigarette an, der Rauch schwebt zur Decke. Sie ist wie die Wände des Zimmers blau gestrichen. Später wird Thomes Freundin, die französische Künstlerin Micaëla Henich, zum Gespräch stoßen. Auch sie kenne ich bereits durch den Tagebuch-Blog des 82- jährigen. Seit zwei Jahren schaue ich dort immer wieder rein. Die Arbeit eines Drehbuchautors und Regisseurs so nah beobachten zu können, war für mich als Filmstudenten faszinierend.

 

 

 

Tom Luca Adams, Lara Verschragen, Rudolf Thome (v.l.) © Micaëla Henich
Tom Luca Adams, Lara Verschragen, Rudolf Thome (v.l.) © Micaëla Henich

Tom Luca Adams: Herr Thome, danke, dass wir Sie auf Ihrem Bauernhof besuchen dürfen. Sie kommen aus einem Dorf in Hessen und haben in München studiert und später in Berlin gearbeitet. Was hat Sie überhaupt hier hergebracht an so einen abgelegenen Ort in Brandenburg?

 

Rudolf Thome: Schon in München haben viele Filmleute sich in der Umgebung auf dem Land niedergelassen und Bauernhöfe gekauft. Später habe auch ich das gemacht. Der erste Kauf in Niederbayern ging aber schief. Kurz nach der Wende hat dann ein Bekannter von einem Makler aus Ostberlin ein Angebot für diesen Bauernhof hier erhalten. Als wir mit unseren Freundinnen aus Bayern hier hergefahren sind, begannen sie zu lachen: die Landschaft war ja völlig flach! Doch als wir hereinkamen wusste ich: Wow, das ist es. Ein Viereckhof, das war mein Ding. Ich habe drei Monate lang überlegt, bin immer wieder mit Freunden und Architekten hergefahren. Zu dieser Zeit lief Der Philosoph sehr erfolgreich im Ausland, also war es für mich ein Klacks das zu bezahlen und ich habe ihn gekauft. Das Dorf hat mich sehr offen aufgenommen, das war äußerst angenehm. Über all die Jahre habe ich dann immer mehr verändert, ausgebaut, es steckt viel Geld drin mittlerweile. Ich habe die Dächer decken lassen, die Elektroleitungen neu gemacht. Die Kachelöfen durch eine Ölheizung ersetzt. Ich lebe hauptsächlich hier, fahre jeden Tag Fahrrad. Das und meine Freundin hält mich am Leben. Sie kommt immer 1100 Kilometer mit dem Auto aus Paris hergefahren. Ich war im November für meinen Geburtstag in Paris, da bin ich zum ersten Mal seit anderthalb Jahren wieder geflogen.

 

War das mal eine Option: dauerhaft ins Ausland, nach Paris zu gehen?

 

Ganz früher mal. Als Micaëla und ich uns 1993 kennenlernten habe ich mich in Paris umgeguckt, mich über französische Filmförderung informiert. Aber es ist dort nicht groß anders wie hier. Doch meine Filme liefen besser und wurden mehr geschätzt als in Deutschland. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, eine Geschäftsstelle meiner Produktionsfirma Moana in Paris aufzumachen, aber es ist nie dazu gekommen. Der Philosoph hatte in Deutschland 15000 Zuschauer, in Italien über 150000, lief in Mexiko über zehn Wochen und hat in Portugal, allein Lissabon mehr Zuschauer gehabt als in Deutschland.

 

Woran liegt das?

 

Meine Art des Filmemachens wird in den mediterranen Ländern mehr geschätzt als in Deutschland. Hier hat man ja nichtmal die Ironie in den Geschichten gespürt. Zum Beispiel im Spiegel ganz früher…

 

Der Karasek.

 

Ja, der hat irgendeinen Quatsch mit Tiefsinn über den Philosoph geschrieben. Was soll das? Nix Tiefsinn! Eric Rohmer hatte den auch gesehen, aber er war enttäuscht. Ihm wurde gesagt, ich mache so Filme wie er. Das stimmt natürlich nicht, auch wenn es eine Parallele gibt.

 

Sind Sie ein Komödien-Regisseur? Es ist nicht ganz leicht sich Ihren Filmen mit den üblichen Begrifflichkeiten anzunähern.

 

Wenn die Leute lachen, das gefällt mir immer. Meine Erfahrung mit Lachen war immer die Viennale und auch schon davor andere Festivals in Wien. Nahezu jeder Film von mir hat dort funktioniert. Detektive lief in einer Nachtvorstellung, wo gleich noch eine Vorstellung drangehängt wurde, weil er so gut ankam. Aber das waren Festivals, im Kino lief es nicht.

 

Sie waren befreundet mit Hans Hurch, dem langjährigen Direktor der Viennale.

 

Ja, wir mochten uns. Er erzählte mir immer die neuen Geschichten von [Jean-Marie] Straub. Als ich Rote Sonne gedreht habe, bin ich mit dem Co-Produzenten Hanns Bruckmann in einem roten Porsche Cabrio nach Rom gefahren. Das war ein Traum. Und wenn man weiß, wie man fahren muss, ist das selbst in Rom kein Problem. »Bella macchina« riefen die Leute aus, wenn wir an eine Tankstelle kamen. Doppelzündung, Doppelvergaser, das war wie im Flugzeug. Straub war nicht sonderlich begeistert von Rote Sonne.

 

Sie arbeiten viel mit Dialogen, aber Sie schreiben, auch in Ihrem Blog, meist nur wenige, kurze Sätze, eher zweckgebunden. Haben Sie auch mal überlegt Literatur zu verfassen? Einmal sprachen Sie von einer »nicht fertiggestellten Autobiographie.«

 

Nein, ich habe nie Theaterstücke oder Literatur verfasst. Dafür bin ich zu ungeduldig. Ich lese unheimlich viel, den gesamten Proust, den gesamten Dickens. Ohne Micaëla, die das alles schon gelesen hatte, hätte ich das nicht hingekriegt. Vor meinen Filmen gab es eine Phase, als ich so begeistert von Albert Paris Gütersloh war und eine Doktorarbeit über ihn an der LMU bei Hermann Kunisch begann, da wollte ich Schriftsteller werden. Ich habe viel für die SZ geschrieben, abwechselnd mit Frieda Grafe. Ein Filmtipp gab 100 Mark, eine Kritik 300 bis 400. Aber dann kam das Filmemachen.

 

Und was ist nun mit der Autobiographie?

 

Die Geschichten sind da. Sex, Drogen, Stars. Aber ich finde keinen Verleger. Die sagen alle: Das kriege ich nicht finanziert. Bei Rowohlt habe ich mal ein Exposé und Manuskriptausschnitt eingereicht. Keine Reaktion, nichts. Jetzt hat sich eine Möglichkeit ergeben. Micaëlas Buch, in dem ihre Zeichnungen von Jacques Derrida beschrieben wurden, ist jetzt bei Brinkmann & Bose auf Deutsch erschienen [Derrida/Henich: Lineagen. Mille e tre, cinq]. Dort wurden auch alle Texte von Frieda Grafe veröffentlicht. Das wäre also eine Möglichkeit, aber ob das wirklich passiert, weiß ich nicht. Es ist auch eine ungeheure Arbeit, die Fotos von den Dreharbeiten herauszusuchen, denn die sind ja das Interessante. Ich brauche einen Lektor, der was taugt. Es ist alles nicht einfach.

 

Nochmal zu Paris. Dort wohnt Ihre Freundin.

 

Wir sind sogar verlobt, wollen eigentlich noch heiraten. Aber wer weiß, ob das noch passiert. 1993 haben wir uns auf einem kleinen Dokumentarfilmfestival in Dünkirchen, wo Beschreibung einer Insel lief, kennengelernt. Schon damals wurde es eine heiße Liebesgeschichte. Sie hat mich zu einem weiteren Festival im Auto und Zug begleitet. Wir haben die ganze Zeit geredet. Sie und ich wissen nicht ein Wort mehr, was wir geredet haben, naja, so ist das. In Paris bin ich dann eine Nacht geblieben. Als es dann wieder anfing vor einigen Jahren, kannte ich ihre Wohnung ganz genau. Sie ist riesengroß, traumhaft, mitten in Les Halles. Neulich waren wir im Centre Pompidou in einer Ausstellung über einen deutschen Maler, den ich kannte… es fällt mir nicht mehr ein. Sie können alles im Blog nachlesen, haha!

 

Wir sprachen schon über eine Kritik von Hellmuth Karasek. Eine ganz wichtige kam von Hans-Christoph Blumenberg, der Berlin Chamissoplatz als das erste Meisterwerk der 80er Jahre bezeichnete.

 

Ja, der Film war ein Totalflop auf dem Filmfestival in Hof. Ich wurde nach der Vorführung ausgebuht und im Pressegespräch zwei Stunden gequält. Gefällt Ihnen irgendwas an dem Film?, fragte ich die Journalisten. Irgendeine Szene? Irgendein Schauspieler, die Musik, Irgendwas? Nichts, gar nichts. In drei Städten lief der Film dann im Kino, war nach einer Woche wieder weg und dann kam der Blumenberg und schrieb dann in der ZEIT diese Kritik. In dieser Zeit fühlte sich Blumenberg als der Papst der deutschen Filmkritik und hat das mit dieser Autorität auch gesagt und in der Redaktion durchgesetzt. Und von dem Moment an lief der Film wie der Teufel. Ich stand mit meinem Co-Produzenten in der Nähe des Arri-Kinos in München und aus der U-Bahn-Haltestelle strömten die Leute hinein, das war das wunderbarste Gefühl überhaupt.

 

Es gibt diese eine Szene im Film, für mich eine der größten im deutschen Film überhaupt…

 

Ja, wo der Zischler singt, die stand nicht im Drehbuch. Der Text ist von einer Frau, die er kennt und er hat die Musik zum Text improvisiert. Das Ganze sind fünf Minuten und es sind ja zwei Stücke. Und der Wechsel vom einen zum anderen… da hauts einen um. Und da kommt Martin Schäfer [der Kameramann] ins Spiel, der das Ganze in einer Fahrt aufgenommen hat und jeder hätte auf den Hanns Zischler geschnitten, aber wir bleiben auf ihr [Sabine Bach], die zuhört und dann wirds halt… Dann blüht die Liebe auf. Selbst ich, wenn ich das vierzig Jahre später mit einer neuen Freundin wiedergesehen habe, dann kommen mir fast die Tränen. So eine Szene ist ein Geschenk.

 

Auch in Ins Blaue gibt es so einen Moment, der mir aufgefallen ist. Ein kleiner Moment, aber da ist wirklich das Verliebtsein spürbar. Die Regisseurin und der Tonmann stehen am Strand und werfen sich verstohlen Blicke zu. Doch auch wenn es immer wieder solche schönen, zarten Momente gibt, stehen diese bei Ihnen nicht im Mittelpunkt, wie es in einem Hollywoodfilm der Fall wäre. Sie wollen keine Identifikation mit Ihren Figuren zulassen, nicht die Gefühle in den Vordergrund stellen, obwohl es immer um Gefühle geht.

 

Ja, meine Filme sind nicht so gemacht, dass man sich mit einer Figur identifizieren kann als Zuschauer. Ich stehe draußen und gucke zu.

 

Eine Beobachterposition…

 

Ja, Nähe und Distanz. So sehe ich das Leben. Im richtigen Leben wäre ich auch oft froh, wenn andere, wie ich, das, was gerade passiert, zum Beispiel bei einem Streit, davon weggehen würden und von oben gucken. Das hat Micaëla und mich auch schon auf die Idee gebracht einen Kurzfilm zu machen. Ich habe ein Drehbuch geschrieben, wo wir beide die Hauptrolle spielen. Wir können das alleine finanzieren, ohne öffentliches Geld, aber es wäre natürlich hilfreich, jemand zu finden, der das produziert und mithilft. Das andere Problem ist, dass es eine große Gefahr gibt, dass unser Paarsein darunter leidet. Und das Paarsein ist mir wichtiger als der Film.

 

 

Wir sprechen über den Blog, das Moana-Tagebuch, das er seit Oktober 2003 täglich online führt. Auch das ist ein Teil des »Gesamtkunstwerks«, wie Beat Presser Tagebuch, Filme und Bauernhof einmal nannte. Thome erzählt von seiner Leserschaft, den Tücken der Website-Technik, der Kamera, mit der er die Fotos macht und die Qualität des neuen iPhones, das manchmal sogar besser ist.

 

Es dämmert bereits, also gehen wir noch über den Hof und das Grundstück. Wir sprechen über die bevorstehende Berlinale unter Corona-Bedingungen und Thomes Wohnung in Kreuzberg. Ich frage, wie sein Name denn nun richtig ausgesprochen wird (Betonung auf einem langen e, als sei dort ein accent aigu). Seine Tochter Joya wird englisch, also Dschoja ausgesprochen. Ihr Film »Lauras Stern« läuft gerade im Kino. Wir gehen an einem alten Taubenschlag und einem zugewachsenen Oldtimer vorbei durch eine Scheune und bleiben neben einem Teich stehen. Vor uns breitet sich die Weite Brandenburgs aus. Kein Licht, keine Autos, nur Felder und in der Ferne ein Wald. Es ist unglaublich ruhig. Ein Moment wie in einem Film.

 

Als wir in die warme Stube zurückkehren stößt Micaëla Henich zu uns und macht ein Foto. Eigentlich wollen wir schon aufbrechen, aber der Wein ist noch nicht ganz leer und mit ihr wechseln wir ins Englische und sprechen noch eine weitere Stunde. Unsere Gedanken streifen Hong Sang-soo, Drogenerfahrungen bei Tarkowskij-Filmen, Flirtgeschichten von Marquard Bohm und »serious film critis and those who want to become famous«. Zuletzt erzählt Thome von der Vorbereitung für »Rot und Blau« vor zwanzig Jahren. Das Drehbuch hatte er für Serpil Turhan und Hannelore Elsner geschrieben. Beide haben zugesagt. Nur noch die Degeto, langjähriger Produktionspartner, dem Thome viel verdankt, fehlte. Dann kam der Anruf. »They said okay. So I just had to shoot.«